Das weise Urteil

Die Gier ist häufig der Wegbereiter für die Unehrlichkeit. Aber wie heißt es so schön: “Ehrlich währt am längsten” oder auch “Unrecht schlägt seinen eigenen Herrn”.

Das will auch die folgende Geschichte (leicht umgeschrieben) von Johann Peter Hebel vermitteln:

Es war einmal ein reicher Mann, der eine beträchtliche Geldsumme aus Vorsicht in ein Tuch eingenäht hatte. Er verlor sein Tuch und war verzweifelt. So setzte er für den ehrlichen Finder eine Belohnung von 100 Taler aus.

Und tatsächlich wurde sein Tuch mit dem Geld von einem ehrlichen Mann gefunden.

Der glückliche Empfänger zählte sein Geld nach und überlegte dabei, wie er den Überbringer um die versprochene Belohnung bringen könnte:

„Es waren 800 Taler eingenäht, nun sind aber nur noch 700 Taler da. Du hast dir wohl die Belohnung bereits genommen!“

Der Überbringer versicherte ihm, dass dem nicht so war. Ihm ginge es auch nicht um die Belohnung, aber Unehrlichkeit lasse er sich nicht vorwerfen. Nach längerem Streit gingen beide vor den Richter.

Der weise Richter ließ sich von beiden den Hergang schildern. Der Richter schien die schlechte Gesinnung des reichen Mannes zu erahnen und fällte folgendes Urteil:

„Wenn der eine ein Tuch mit 800 Talern verloren, der andere aber eines mit 700 gefunden hatte, dann kann es nicht das Geld des Ersteren sein. Der Finder soll das Tuch mit den 700 Talern sicher verwahren, bis sich jener meldet, der diese Summe verloren hat. Der andere soll warten, bis sich derjenige kundtut, der ein Tuch mit 800 Talern gefunden hat!“

Johann Peter Hebel 1760 – 1826, Dichter

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