Geschichte: Die Ohrringe für einen besonderen Anlass

Man kann nie wissen, wie lang der gemeinsame Weg noch ist. Deshalb sollten wir die Zeit nutzen und für jeden Meter dankbar sein, den wir mit uns wichtigen Menschen zusammen gehen können. 

Ein Mann öffnete im Beisein seines besten Freundes die Kommodenschublade seiner Ehefrau und holte ein in Seidenpapier gehülltes Päckchen heraus. Schöne Ohrringe lagen darin. Er warf das Papier weg und betrachtete den Schmuck.

„Die habe ich ihr gekauft, als wir zum ersten Mal in New York waren. Das ist acht oder neun Jahre her. Sie trug die Ohrringe nie. Sie wollte sie für eine besondere Gelegenheit aufbewahren. Jetzt scheint der richtige Moment dafür zu sein!“

Er näherte sich dem Bett und legte die Ohrringe zu den Kleidern, die vom Bestattungsinstitut mitgenommen werden sollten. Denn seine Frau war plötzlich verstorben.

Als der Mann sich zu seinem Freund umdrehte, sagte er:

„Bewahre nichts für einen besonderen Anlass auf! Jeder Tag, den du lebst, ist Anlass genug.“

Der Freund dachte noch lange an diese Worte. Sie veränderten sein Leben. Fortan las er viel mehr als früher und putzte weniger. Er setzte sich öfter auf seine Terrasse und genoss die Landschaft, ohne auf das Unkraut im Garten zu achten. Er verbrachte mehr Zeit mit seiner Familie und seinen Freunden.

Er hatte begriffen, dass das Leben eine Sammlung von Erfahrungen ist, die es zu schätzen gilt. Er sagte sich:

„Von nun an bewahre ich nichts mehr auf. Ich benutze täglich meine Kristallgläser. Wenn mir danach ist, trage ich meine neue Jacke, und sei es nur, um damit in den Supermarkt zu gehen. Sätze, die anfangen mit ‚Eines Tages …‘ oder ‚Irgendwann mal werde ich …‘ verbanne ich aus meinem Vokabular. Wenn es sich lohnt, will ich die Dinge hier und jetzt sehen, hören und machen.

Ich bin mir nicht ganz sicher, was die Frau meines Freundes getan hätte, wenn sie gewusst hätte, dass sie morgen nicht mehr sein wird. Ich glaube, dass sie noch ihre Familie und engen Freunde angerufen hätte. Vielleicht hätte sie mit ein paar Personen telefoniert, um sich zu versöhnen oder sich für alte Streitigkeiten zu entschuldigen.

Der Gedanke, dass sie vielleicht noch chinesisch essen gegangen wäre – ihre Lieblingsküche –, gefällt mir sehr. Es sind diese kleinen unerledigten Dinge, die ich mit Blick auf die gezählten Tage bedauern würde.

Schade fände ich es, gewisse Freunde nicht mehr gesehen zu haben, mit denen ich mich ‚irgendwann mal‘ in Verbindung setzen wollte. Schade, nicht die Briefe geschrieben zu haben, die ich ‚irgendwann mal‘ schreiben wollte. Schade, meinen Nächsten nicht oft genug gesagt zu haben, wie sehr ich sie liebe.

Jetzt verpasse, verschiebe und bewahre ich nichts mehr, was Freude und Lächeln in unser Leben bringen könnte. Ich sage mir, dass jeder Tag etwas ganz Besonderes ist.“

Diese Geschichte stammt aus meinem Buch „BLÜTEZEITEN: Impulse für Entspannung & Lebensfreude“ (Herder-Verlag).

Erhältlich im Buchladen, online über die verschiedenen Buchhandlungen – z. B. hier direkt beim Herder-Verlag, beim sozialen Buchhändler buch7.de (der Anteile der Einnahmen an soziale, ökologische oder kulturelle Projekte spendet) – oder über Amazon.


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Kommentare

  • Birgit

    Lieber Unbekannter,

    da sprichst du mir aus der Seele!

    Es war ein langer Weg, um genau da hinzukommen, was du da beschreibst. Da man nie weiß, wann der eigene Weg zu Ende ist, sollte man nichts auf Morgen verschieben. Wir haben nur dieses eine Leben.

    Wenn es da so Sätze gibt, wie, das wollte ich immer schon mal machen, sollte man es jetzt in Angriff nehmen. Auch Dinge, für die man vermeintlich zu alt ist, einfach machen. Das ist es, was ich in letzter Zeit mache. Und mein Leben hat wieder Fahrt aufgenommen! Ich möchte das nicht mehr missen. Es hat mein Leben sehr bereichert!

    Liebe Grüße

  • Karin

    Nun, warum auch immer seine Frau das Kleid nicht getragen hat, ist Spekulation. Sie steht auch im Zusammenhang der Reise nach Wien und damit an Erinnerungen.

    Die meisten Menschen und auch Paare verlieren im Alltag, im Leistungs- und Arbeitsdruck, im bisher selbstverständlichem Konsum u. v. m. das Wesentliche – die Dankbarkeit und den wahren Sinn des Lebens, die Wertschätzung und dass jeder Tag ein Geschenk des Lebens ist!

    Der Tod gehört zum Leben – wie lang oder kurz es sein mag. In der westlichen Gesellschaft wurde er „erfolgreich“ tabuisiert. Diese Message mag es uns wieder mehr bewusst machen.

  • Helgi

    Die Erzählung ist sehr schön. Das Kleid ist symbolisch gemeint für alles, was wir mit Liebe geschenkt bekommen.

    Wenn uns das Geschenk im Moment des Schenkens zu kostbar erscheint, wollen wir es für eine besondere Gelegenheit aufheben. Bücher könnte man auch nennen, die erst nach Jahren aus dem Schrank geholt und gelesen werden. Auch auf unsere guten Vorsätze, das Leben zu ändern, legt sich langsam der Staub.

    Wir leben von und mit unseren Träumen, die uns das Leben lichter erscheinen lassen.
    Gerade die kleinen, unbenutzten Geschenke führen uns zu den Träumen hin. Deshalb lieben wir sie, zerstören sie nicht, sondern heben sie auf.

    Vielleicht wurde das Kleid oft von zarten Frauenhänden gestreichelt. Wer weiss das schon.

  • Bea

    Hallo Alex,

    ich fand gerade das Beispiel mit der Unterwäsche so schön, weil es zeigt, wie oft wir im Leben Dinge auf später schieben – Dinge, die einem gar nicht so in den Sinn kommen – wie eben diese Unterwäsche für den besonderen Tag. Das Lokal, das man ausprobieren möchte, den Film, den man schauen möchte, die Gegend, die man bereisen will, ein neues Hobby, das man testen will oder eben die viel zu teure Wäsche – mir hat die Geschichte sehr gut gefallen – mein Mann ist im vergangenen Jahr viel zu früh mit Ende 50 verstorben – wieviel hatten wir uns noch vorgenommen… und dann war die Zeit zu kurz.

    Deshalb: tolle Geschichte aus meiner Sicht und auch das Wäsche-Beispiel passte gut – ich musste schmunzeln…