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Trügender Eindruck

Der erste Eindruck kann immer täuschen, und das sollte uns stets bewusst, wenn wir über eine Person oder Situation urteilen. Denn oft ist alles ganz anders, als es scheint. Dazu die folgende Geschichte: Ich wählte an einem Freitagabend den späteren Zug, um der Rushhour zu entgehen. Fünf Tage lang hatte ich an einer anstrengenden Programmschulung teilnehmen müssen, die mir mein Chef aufs Auge gedrückt hatte. Nun brauchte ich dringend meine wohlverdiente Ruhe und freute mich auf meine Familie. Im Zug war es angenehm ruhig. Die meisten Passagiere waren mit ihren Smartphones beschäftigt, lasen in der Zeitung oder legten ein kleines Nickerchen ein. Doch die friedliche Stimmung änderte sich abrupt an der nächsten Haltestelle, als eine Mutter mit ihren kleinen Kindern einstieg. Die Frau setzte sich mir grußlos gegenüber und schloss ihre Augen. Ihre Kinder hingegen waren laut, wild und äußerst störend. Sie rannten im gesamten Zugabteil umher und rempelten so manchen Fahrgast an, eine ältere Dame verschüttete sogar den Inhalt ihres Bechers Kaffee über den Mantel. Dass die Mutter diese Situation nicht zur Kenntnis nahm und ihre Kinder maßregelte, obwohl schon weitere Fahrgäste hinter vorgehaltener Hand ihrem Unmut Luft machten, irritierte mich. Ich wollte die Frau gerade ansprechen, als mir der Schaffner zuvorkam: „Werte Frau, Ihre Kinder sind wirklich sehr störend! Ich bitte Sie, Ihre Rabauken zur Ruhe zu bringen!“ Die Frau öffnete verstört ihre Augen und es sah aus, als ob sie sich erst jetzt dieser Situation bewusst würde. Entschuldigend sagte sie leise: „Ich bitte vielmals um Verzeihung wegen meiner Achtlosigkeit. Wissen Sie, wir kommen gerade aus der Klinik, in der mein Mann vor einer Stunde verstorben ist und ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Meine Kinder wissen vermutlich auch nicht, wie sie mit dem Verlust ihres Vaters umgehen sollen.“ Beschämt senkte ich mein Haupt über mein vorschnell gedachtes Urteil. Die Frau erhob sich, um an der nächsten Haltestelle auszusteigen. Wortlos drückte ich ihre Hand, woraufhin für einen kurzen Moment ein Lächeln über ihr Gesicht huschte und sie mich dankbar ansah. © Gisela Rieger Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Gisela. Die Geschichte stammt aus ihrem Buch „111 Herzensweisheiten“. 

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